Hin und wieder lese ich "Die Zeit", soviel Zeit muss sein. Meistens liegt es nicht an der fehlenden Zeit, wenn ich sie nicht lese, sondern am fehlenden Raum. Als Bettlektüre eignet sich dieser grossformatige Wissensspeicher nun mal nicht und auf dem Sofa möchte die Katze immer mitlesen, das geht gar nicht. Die zeitliche Manipulation dieses unverdorbenen Katzenwesens kann ich nicht dulden.
Eigentlich bräuchte ich ein spezielles Zeit-Zimmer. Da könnte man einen Zeit-Teppich verlegen und sich mittels eines Lesekeils bäuchlings an die unverzichtbaren, journalistischen Glanzleistungen und Erkenntnisse ranrobben.
Da ich weder Haus- oder Nobelappartement-Besitzerin bin, noch promoviert hab geschweige denn habilitiert bin und auch nicht regelmässig in der Business-Class fliege oder sonstig Zeit-privilegiert bin, zähle ich mich nicht zum eingeschworenen, typischen Zeit-Leser Klientel, sondern würde mich eher als räumlich beschränkte Gelegenheits-Zeit-Leserin bezeichnen.
Das Raum- und Zeitproblem hab ich inzwischen durch eine spezielle Zeit-Sofa-Ecke und durch straffe Organisation meines Wochenablaufs gelöst. Ein Abend der Woche gehört zuungunsten anderer Aktivitäten in Zukunft der Zeit, kleine Sofakissentürme links und rechts entlasten die Arme beim Halten der schwergewichtigen Zeit, von hinten wird sie mit einem flexiblen Leuchtsystem angestrahlt. Obwohl ich das eigentlich nicht bräuchte, weil die Reise durch die Zeit immer eine anregende ist, verringern Leuchtmittel mit Tageslichtspektrum dabei prophylaktisch das Ermüdungsrisiko.
Auf diese Weise werden auch traumatische Zeit-Erlebnisse schon im Keim erstickt. Wollte doch tatsächlich ein bauernschlauer, ignoranter Pappnaserich auf einer Berghütte unsere ungelesene Zeit zum Trocknen seiner Schuhe verwenden, mit der Begründung:
„Frauen verstehen den Wirtschaftsteil doch eh nicht". Den anderen Teil hätte er vermutlich zum Stopfen der Hohlräume seines Gehirns gebraucht. Pffft, da wickel ich lieber meinen Kompost in die Edelpostille und stopf sie in die Tonne.
Als ich neulich vertieft in meiner Zeit-Ecke sass und genüsslich das seicht-unterhaltsame Zeit Magazin durchblätterte, tauchte ich dabei in die Niederungen postmoderner Feuchtgebiete, lernte den emanzipierten, weiblichen Orgasmus kennen, so oder so und wie sie "lange nach dem vertuschten Ereignis ihm einen Orgasmus vorspielt".
Von Fürstin Gloria über Alice Schwarzer bis Veronica Ferres, alle haben sich geoutet: "Ich habe vertuscht!"
Nicht vorgetäuscht, sondern vertuscht - oha, das ist bahnbrechend - welch weibliche Raffinesse!!
Gewissenhaft kämpfte ich mich durch den aufschlussreichen Artikel und konnte so den wenig nachvollziehbaren dafür umso verblüffenderen Bogen des Schreiberlings vom vertuschten Orgasmus bis zur "Travel Pussy" begleiten. Kurz unterhalb der Gürtellinie kam die Zeit an ihre Grenzen, da konnte nur noch Google helfen. Wie der Autor des Artikels, wollte auch ich rausfinden, was Travel-Pussy-Käufer bei Amazon sonst noch kaufen. Bei Harald Mertenstein war es der Film "Batman begins", bei mir haben Kunden, die diesen Artikel erworben hatten, durchschnittlich häufig ebenfalls den "AspenSport Outdoor und Trekkingrucksack Minnesota, 35 Liter" gekauft...und ich dachte immer, die haben Vesper und Trinkflasche im Rucksack!
Tja, Zeit-Leser wissen eben mehr ;-)
Tracy Chapman - This Time
David Wilcox - It‘s Almost Time
Dee Carstensen - Time