Sonntag, 14. Januar 2007

Electronic City
















Bedrückende Stille. Die Bühne, duster, eintönig bestückt mit folienverschweissten Würfeln aus gepressten PET Flaschen. Eine Mülltonne am Rand und ein ein grosser, durchsichtiger Kubus im Hintergrund, in dem ein Bürostuhl und ein Tisch steht, ergänzen das Bühnenbild. Der Boden ist übersät mit leeren, bunten PET Flaschen.

Tom, der Protagonist, unterwgs als erfolgreicher global Manager, betritt das Szenario, irrt orientierungslos durch die Gleichförmigkeit.

-Die Stadt?
-Los Angeles
-New York
-Berlin
-Seattle, Tokio, New Mexico
-er weiss es selbst nicht so genau.

Ein Zahlencode verschafft ihm normalerweise Zugang zu seinem Zimmer, seinen Geschäftsunterlagen, seinem Laptop, seiner Identität. Der Code ist weg. Totalausfall, Sein Gehirn spielt verrückt. Die Erinnerung schrumpft sein bisher gelebtes Leben in eine Anhäufung von immer wiederkehrenden gleichen Szenarien, einer Mischung aus Zeit- und Atemlosigkeit, ausdruckslosen Gesichtern, nichtssagenden Gebäuden und Zahlen.

-Zu oft den Ort gewechselt, in der letzten Zeit, völlig die Orientierung verloren:
-Wo ist Joy, wo ist Joy?
-Wenn ich doch bloss mein Handy mitgenommen hätte
-meinen Palm
-meinen Organizer
-mein Notebook
-oder wenigstens einen Kompass

Verzweifelt versucht er, seine Erinnerung auszutricksen und ihr die Zahlenkombination zu entlocken.

-7-1-7-2-4?? 7-1-7-2-5??
-Manager auf Psychopharmaka irgendwo am anderen Ende der Welt
-in Hochhausbetten Lagerstätten Halbtagsunterkünften
-wo sie sich ablegen kurzzeitig zusammenbrechen Ruhe finden
-um dann nach wenigen Stunden weiterzufliegen
-zu fusionieren zu investieren zu spekulieren

Irgendwo, in irgend einer anderen Metropole, sitzt seine

-Frau?
-Freundin?
-Geliebte?

in der Flughafenlounge an der Kasse, scannt Fitnessriegel, Burger, Sushipäckchen und Powerdrinks. Er erinnert sich, an ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Haut, iheren Namen. Joy! Aber wo ist Joy?
Tom flüchtet sich in den Fitnessraum, der aussieht wie irgendeiner in irgendeinem Hotel in irgendeiner Stadt.

- Tom hetzt über das Laufrad im Fitnessraum,
- neben ihm zwanzig Männer, die genauso aussehen wie er:
- Schlappe Schultern, Hühnerbrust und Bauchansatz
- der typische Banker eben
- aber bemüht
- ja bemüht doch noch das Beste
- aus seinem erschöpften Körper rauszuholen
- verhetzt, verschwitzt, einsam, ungeliebt, ohne Sex.
- Menschen liegen in Hotels
- die auch gleichzeitig Kurzzeitkliniken und Feriendomizile sind

Dieses moderne Märchen hat kein Happy-End. Falk Richter lässt Tom am Ende die Hoffnung auf ein 20minütiges Treffen mit seiner Joy während eines Zwischenaufenthaltes auf dem Amsterdamer Flughafen. Wo sie sich dann für kurze Zeit in die Augen sehen, einige Sätze austauschen, sich umarmen können und dann vielleicht noch kurz auf der Herrentoilette...

JOY Ich liebe dich
TOM Das L-Wort. Du machst mir Angst.
JOY Ich vermisse dich. Wir schaffen das schon.
TOM Ja. Wir schaffen das.

ENDE

Das bunt-gemischte Publikum aller Altersgruppen füllt die Spiegelhalle bis auf den letzten Platz - selbst Nix, der Chef höchstpersönlich ist anwesend - und verfolgt mucksmäuschenstill gespannt das surrealistisch anmutende Treiben auf der Bühne.
Der starke Realitätsbezug lässt mich allerdings temporär vergessen, dass ich im Theater sitze, kenne ich doch zu gut Situationen der Hilflosigkeit angesichts fehlender Kreditkarten, vergessener Passwörter und leerer Akkus, sowie der Orientierungslosigkeit in sich gleichenden Grossstadtzentren mit ihren Shopping Malls, Mc Donalds, Hotelketten und Flughäfen.
Mindestens 50 Passwörter, Geheimcodes und Zahlencombinationen sind in meinem Gehirn permament gespeichert und meistens auf Abruf präsent.
Dann, abends an der Supermarktkasse passierte es neulich. 12 Stunden hat mein Gehirn ordnungsgemäss auf Befehl funktioniert, die Ware war eingescannt, mein Klingelbeutel wie meistens leer, aber die Kreditkarte..."tippen Sie ihre Geheimzahl ein und bestätigen 2 mal"...mein Zeigefinger stochert auf Kommando in den Tasten, nur - mein Gehirn verweigert den Dienst an der Zahl. Keine Befehle mehr von der Zentrale. Ich steh wie hypnotisiert, kann es nicht fassen. Die Leute in der Schlange fangen nach einigen Minuten nervös an zu raunen. Nichts. Es kommt nichts. Plötzlich fühl ich mich, wie eine von sämtlichem Zahlenmüll entleerte Hülle, zweckentfremdet und deplaziert in dieser codierten Welt.
Ein Kind, eingepfercht in einen Einkaufswagen, wirft währenddessen ungeduldig und übermütig Waren vom Band und bringt seine Mutter schier zur Verzweiflung - und mich zum Lachen. Da war sie wieder - die Zahl.

Zurück zum Stück: Spannend war's wie ein Thriller, obwohl die "Action-Szenen" eher Seltenheitswert besassen. Kein Leichtes, kein Seichtes, aber hervorragend und intensiv gespielt von seinen Darstellern, von denen einiges abverlangt wurde.
Die anschliessende, gross-öffentliche Diskussionsrunde reduzierten wir dann allerdings auf einen entspannt privat-kleinen, samstagabendtauglichen Weizen-Plausch.

Freitag, 12. Januar 2007

Weg














The Walkabouts - Devil In the Details [mp3]

"Praktische Menschen tragen Gummistiefel, unpraktische tragen sie auf dem Kopf. Sind deshalb praktische Menschen besser als unpraktische? Oder schlechter?

Ich glaube, der Mensch ist nicht für die perfekte Welt gemacht. Das sieht man schon daran, dass der Planet, auf dem wir leben, perfekt ist - und wir trotzdem nicht glücklich sind. Statt dessen wollen wir immer etwas anderes, das Neue, Einmalige. So schaffen wir Kunst und Kinder, fern der Vernunft, fern jeden guten Grundes. Wir bauen Städte, und unter den Städten liegen andere Städte, so wie ein Maler ohne Leinwand alte Bilder übermalt, so wie in jedem Menschen andere Menschen begraben liegen, ehemalige Selbst, aus denen wir heraus gewachsen sind. Denn auch in uns ist alles in Bewgung.

Und die Wahrheit? Ist der Weg, auf dem wir sind."

Victoria Williams


Ihre kleine, hohe Singstimme, die manchmal schrill quäkte, manchmal unvermittelt brach, erreichte nie eine hitparadentaugliche Schönheit. Unter amerikanischen Rockmusikern wie Lou Reed, Pearl Jam, R.E.M. war die Folkmusikerin aus Louisiana trotzdem eine anerkannte, hochverehrte Grösse.
In den neunziger Jahren heiratete sie Mark Olson, Kopf von "The Jayhawks", der seine eigene, grade in Gang gekommene Karriere zugunsten seiner Frau aufgab, als sie an Multiple Sklerose erkrankte. Trotz ihrer Erkrankung produzierte sie mit ungebrochenem Willen und Unterstützung ihrer Musikerfreunde weitere Alben. Unter anderem veröffentlichte sie Anfang 1998 "Musings oOF A Creek Dipper", ein reflexives Gesamtkunstwerk, das im Vergangenen wurzelte, was sich auch in der Instrumentierung spiegelte. Williams spielte unter anderem die archaischen Instrumente Banjo und Kalimba.

Lights [mp3]

Wille


"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Der spanische Maler Francisco de Goya betitelte eines seiner Werke mit diesem Satz, der heute angesichts der Selbstmordattentäter und radikalen Führer gerne mahnend zitiert wird. Doch Goya sprach nicht von den bösen Ungeheuern, sondern von den guten. Pablo Picasso etwa, der in seinem Leben mehr als 20.000 Kunstwerke geschaffen hat - ein Monster. Picasso war allerdings zudem noch geschäftstüchtig, was ihm auch Respekt von Menschen brachte, denen manisches Verhalten sonst eher Unwohlsein bereitet. Andere Künstler balancierten weniger geschickt zwischen Besessenheit und Vernunft. Sie bekamen Probleme, einige landeten sogar im Irrenhaus. Das kommt heute nicht mehr so häufig vor, aber wer sich besessen auf ein Ziel konzentriert, stur an einer Vision festhält und sich um Regeln, Gestze oder seine Mitmenschen nicht schert, wird immer noch misstrauisch beäugt. Der ungezügelte Wille gilt grundsätzlich als suspekt."


Donnerstag, 11. Januar 2007

Wahrheit


"Die Wahrheit muss man wollen. Sie ist so komplex wie die Welt, deren Essenz sie abbilden soll - und in unsrerer Welt der vielschichtigen, weit verzweigten Verhältnisse ist jedes Opfer auch ein Täter, schuldig und unschuldig, macht Gewinn und Verlust. Die Situation im Nahen Osten ist ein Netz aus historischen, wirtschaftlichen, religiösen, sozialen, ideologischen und persönlichen Beziehungen, das sich bestenfalls nach Interessen sortieren lässt - jede weitere Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso richtig wie falsch. Denn die Wahrheit eines solchen Netzwerks ist nicht statisch wie eine Markierung am Strassenrand, sondern fliessend wie der Verkehr auf der Strasse. Und weil unsere sachliche Sprache für eine Beschreibung solcher Bewegungen nicht eingerichtet ist, müssten die Nachrichten eigentlich von Dichtern geschrieben werden, die bereit sind, Mühe, Zeit, Aufmerksamkeit, Offenheit, Kraft, kurz: Arbeit zu investieren - weil sie die Wahrheit wollen. Aber dann hätte man keine zweifelsfreien, sendefähigen oder druckbaren Meinungen - und darum geht es schliesslich in den Medien. Wozu also sollte man das tun?"

Cold Truth [mp3]

Mission Impossible