Sonntag, 10. Januar 2010

Unter der Brücke

Entschleunigung ist zwar der neueste Hype, und ehrlich, ich finde auch immer öfter gefallen daran, aber das war es nicht. Mein Auto macht gerade Winterschlaf und der Drahtesel bockt (zu Recht!) bei der Kälte, so werden zur Zeit meine Beine überdurchschnittlich oft ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt.
Zugegeben, es kostete mich schon eine doppelte Portion Überwindung, aus dem warmen Nest den Gang in die Kälte, durchs nächtliche, trostlose, Industriegebiet anzutreten.  Ein flotter Schritt, vermummt in Zwiebelschalenkleidung und dicke Wanderschlappen an den Füssen machten das ganze erträglich. Mein Erscheinungsbild erinnerte ein wenig an einen Yeti, passte aber hervorragend in die surrealistische Szenerie.Es wunderte mich eigentlich nicht besonders, dass ich keinen Menschen begegnete.


Um so erfreulicher, als mich am Schänzle-Brückenpfeiler etwas Menschliches  aus meinen Gedankenlabyrinth befreite und unvermittelt an mein eigentliches Vorhaben erinnerte. Eine kleine Menschenherde, es mögen an die 100 gewesen sein, standen dicht aneinandergedrängt um Feuertöpfe, der Duft von Glühwein hatte etwas Verlockendes. Ich hätte nicht erwartet, dass Poetry Slam auf einer Europalette bei diesen Temperaturen doch so viele unter die Brücke lockt.

Initiator des „Benefizpoesieprotest“ zugunstan Konstanzer Obdachlosenprojekte war der Konstanzer Autor und Verleger Jürgen Weber. Er lud umsonst und draussen zur zweiten Ausgabe seiner Reihe „Kunst- und Literaturpalette“. Die vier Slam-Poeten Matze Brenner (Konstanz), Mathias Frei (Frauenfeld), Etrit Hasler (St. Gallen) und Christian Erne (Schaffhausen) konnte er für seine Idee begeistern, politische Texte, Texte über Armut und Obdachlosigkeit, auf einer Palette unter der neuen Rheinbrücke zu präsentieren.



Sie kamen, mit Texten scharf wie Rasierklingen unter der Zunge und sie haben damit die Kälte der Nacht durchschnitten, haben Worte ausgespuckt, geflüstert und geschrien, gegen die soziale Kälte, dass es einem warm wurde, auch ums Herz, und manchmal kroch mir die Gänsehaut über den Nacken.

Eineinhalb Stunden dauerte das Wortspektakel, dabei erwies sich der aussergewöhnlicher Ort als ideale Kulisse für diese aussergewöhnliche Veranstaltung. Immer wieder huschten Schatten über die Graffities des Brückenbetons und bizarre Echospiele verstärkten als Nebeneffekt die Wortgewalt der Akteure.



Der Verzicht auf Gage und die Unterstützung zahlreicher ehrenamtlicher Helfer ermöglichten, dass die knapp 700 Euro Spenden vom Publikum zu gleichen Teilen an die Konstanzer Tafel, die Betroffeneninitiative e.V. sowie an die Mobile Ambulanz der AGJ fliessen können.

Diese spektakuläre Aktion schreit förmlich nach Widerholung - ich würde sofort nochmal hingehen, auch wenn die Hölle zugefroren wär!

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